Sie hält inne. Lauscht in die Dunkelheit hinaus und lässt ihren Atem einen Moment zur Ruhe kommen. Sie spürt, dass sie angekommen ist. Angekommen in der tiefsten Dunkelheit, die sie samten und weich empfängt. Sie birgt nichts angsterfülltes mehr. Sie steht ganz still und lässt sich von der Stille dieser Dunkelheit ergreifen, sich von ihr erfüllen, wohltuend ist sie, in ihrer Weichheit ungeahnt heilsam. Solange hat sie sich nach dieser Stille gesehnt. So lange konnte sie nicht eintauchen in dieses Sein abseits allen Lärmes in ihr und aller Erfordernisse um sie herum. So lange hat sie gesucht nach einem Weg, der sie zu dieser Stille führte. Ihr Leben war vom Suchen durchdrungen.
Sie steht reglos und lauscht tiefer hinein in das Dunkel. Es knistert leise im Gebüsch und sie entspannt sich in der Gewissheit, nicht allein zu sein. Sie war nicht alleine. Niemals. Was für ein Irrglaube. Was für eine Täuschung. Sie spürte den hochgewachsenen Baumstamm neben sich, ertastet ihn und lehnt sich an ihn. Tränen füllen ihre Augen. Was für eine Täuschung. Ihre Müdigkeit, ihre tiefe Müdigkeit des Suchens bricht sich Bahn und fließt in einem Strom ungeweinter Tränen ihre Wangen hinunter. Sie sinkt den Stamm entlang zu Boden und lässt all diese Tränen in Wellen aus sich herausbrechen. Bilder ziehen in ihr vorüber, Bilder der Momente, in denen sie diese Tränen gesammelt hat, Augenblicke, die in ihr Geschichte geschrieben haben, die sich jetzt mit dem Fließen der Tränen befreien, sich verflüssigen, mit dem Tränenstrom aus ihrem Innern herausbrechen und wie unsichtbar in die Luft entweichen. Ein Käuzchen ruft. Mehrmals. Sie ist nicht alleine. Sie war nie alleine gewesen. Eine tiefe Erleichterung steigt aus dem Boden den Rücken am Baumstamm entlang durch sie hindurch in ihr auf und gibt den Raum hinauf zur Baumkrone frei. Ein in langen Jahren gewissenhaft und mühsam aus Ängsten und Gedanken dichtgewebter Schleier öffnet sich und Leichtigkeit durchströmt sie. Je mehr der Tränen sie frei gibt, desto leichter wird sie. Schwere Lasten scheinen fortgespült zu werden und dürfen sich in den salzigen Rinnsalen auflösen.
Sie sitzt lange. Sie hat aufgehört zu denken und sich dem Fluß der Tränen überlassen. Sie spürt, wie sie langsam leer wird und dass diese Tränenlast mit den darin erstarrten Augenblicken und den darin festgehaltenen Gefühlen sie abgehalten hat sich selbst zu spüren. Sie sitzt lange und spürt nur noch diese Leichtigkeit der Leere. Auf eine ihr bislang völlig ungekannte Weise fühlt sie sich frei wie nie zuvor. Eine neue Welle der Wärme steigt in ihr auf und tiefe Dankbarkeit erfüllt sie. Dankbarkeit für ihr Sein gerade hier, gerade jetzt in der Dunkelheit an diesem Baumstamm. Dankbarkeit für den Weg, der sie hierher gebracht hatte. Dankbarkeit für alles, was sich in ihr angestaut hatte, sodass sie den Weg ging, den sie gegangen war, denn anders hätte sie nicht erlebt, was sie erlebt hatte und würde nicht erfahren, was sie gerade in diesem Augenblick erfuhr. Dann wäre sie jetzt nicht hier. Sie saugt die tiefe Dankbarkeit mit der samtenen Dunkelheit Atemzug für Atemzug in sich hinein.Solange, bis die Dämmerung ihre Boten schickt und ein zartes Licht die Dunkelheit sachte, fast unmerklich durchdringend aufzulösen beginnt.